Mythos bedeutet gemeinhin Erzählung. Erzählung einer entschwundenen Zeit oder eines sagenhaften Ortes, die in besonderer Weise im kollektiven Gedächtnis sind. Vielleicht, weil sie Schichten in uns zum Leben erwecken, die dem Alltäglichen etwas Magisches hinzufügen: eine bildmächtige Vorstellung, wie der Mensch sich gegen Widerstände behauptet und sich seine Welt erschließt. Die klassische Welt des Mythos ist eine Welt der lauernden Gefahren und chaotischen Verhältnisse, die bezwungen und beherrscht werden müssen.
Mythische Erzählungen stehen mit einem Bein in der Erinnerung, mit dem anderen in der Fiktion. Und doch verhandeln sie zeitlose Ideen. Warum uns mythische Berichte gefangen nehmen, liegt an der Universalität ihrer Inhalte, die sich weder historisieren noch ruhigstellen lassen. Natürlich gibt es – und es gibt sie in der lebendigen Brennschärfe unseres kollektiven Bewusstseins – auch moderne und gegenwartsbezogene Mythen: Berichte über Konstellationen, in denen sich etwas bislang nicht für möglich Gehaltenes kristallisiert.
Eine solche Zeit des Umbruchs und der wegweisenden Neuerungen war das Schwabing der ausgehenden 60´er Jahre in München: Schauplatz von Veränderungen und darin Vorreiter für mehr Wagnis, mehr Initiative, mehr Gestalträume. Der ›Mythos Schwabing‹ mit seinen vielfältigen Schauplätzen wirkt heute noch nach. Aber was besagt er überhaupt? Oder besser – was besagt er uns (Nachgeborenen) und wie lässt sich seine innere Grammatik beschreiben?
Ein Ideenherd literarischer, künstlerischer, auch politischer Experimentierfreude, produktive Lust, Non-Konformismus, freilich auch mit anarchischen Elementen, aber im Geist der Überzeugung, dass jeder zukünftige Schritt nur ein Schritt sein kann, der wegführt von der Monstrosität des damals nur zu präsenten politischen Vernichtungswillens und der kulturellen Barbarei. Der ›Mythos Schwabing‹ setzte dem verkrusteten Konservatismus der Nachkriegsära eine andere Wirklichkeitsauffassung entgegen und steht exemplarisch für das, was wir heute mit dem Begriff der Zivilgesellschaft bezeichnen.
Die Idee zivilgesellschaftlichen Engagements ist heute wichtiger denn je. Sie ist ein wesentlicher Baustein jeder demokratischen Ordnung und umfasst neben gesellschaftlichen Verständigungsprozessen auch das Spektrum unserer ästhetischen Wirklichkeitsgestaltung. Kunst, Literatur, Musik, Performance brauchen Foren, um sich zu präsentieren. Die Erschließung solcher Foren und Begegnungsstätten ist der notwendige Hintergrund, um überhaupt von einer lebendigen Kunstszene zu profitieren. Ästhetische Vielfalt bleibt eine leere Wunschformel, solange keine konkreten Rahmenbedingungen dafür generiert werden.